Verfolgung und Verhaftung oder Flucht ins Exil: Das ist die Wahl, vor der Regierungskritiker*innen in Russland aktuell stehen. Ihre Handlungsräume innerhalb des autoritären Staates schwinden – doch das Problem ist nicht allein Putin.
VON FINN LYKO · 15. MÄRZ 2024
Etwas mehr als zwei Jahre ist es mittlerweile her: Kurz nach Russlands Überfall auf die Ukraine erließ die russische Regierung unter Wladimir Putin am 4. März 2022 im Eilverfahren zwei Gesetze, die unabhängige Berichterstattung über sowie Proteste gegen den Krieg in der Ukraine bis heute kriminalisieren – und mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren belegen.
Die ehemalige Moskauer Kommunalabgeordnete Elena Kotenochkina floh kurz darauf aus Russland nach Litauen, da ihr aufgrund ihrer öffentlichen Positionierung gegen den Krieg sieben Jahre Haft drohen – sie lebt nun im Exil. Die Angst vor Festnahmen sei unter russischen Regimekritiker*innen groß, sagt Kotenochkina. Einige ihrer Kolleg*innen seien derzeit wegen regimekritischer Äußerungen in Russland inhaftiert.
Wahl zwischen Haft oder Exil
Auch Yury Borovskikh, Soziologe und Vorsitzender des Berliner Vereins „Russland hinter Gittern“, meint: Oppositionelle Arbeit im Land sei kaum noch möglich. Die immer weiter zunehmende staatliche Repression ließe Andersdenkenden immer weniger Möglichkeiten – die „Spielregeln“ änderten sich ständig. Insbesondere wenn es um den russischen Krieg in der Ukraine gehe, sei die Unterstützung der Ukraine in Russland kaum möglich.
Regimekritiker*innen stehen zunehmend vor der Wahl zwischen Haft und Exil, sagt auch Aktivistin Alissa Ganieva. Sie selbst habe sich für das Exil entscheiden können, doch vielen Gleichgesinnten sei es anders ergangen: Seit 2014 habe sich die Anzahl politischer Gefangener in Russland um mehr als das Zehnfache erhöht, berichtet Ganieva.
Keine Opposition „im westlichen Sinne“
Das alles sorge dafür, dass eine „Opposition im westlichen Sinne“ im heutigen Russland nicht existiere, erklärt Elena Kotenochkina. Und trotzdem gebe es Widerstand aus der Zivilgesellschaft. Ein Beispiel sei für sie die Beerdigung von Alexei Nawalny Anfang des Monats in Moskau. Zu diesem Anlass hatten sich trotz eines großen Aufgebots der Polizei rund 30.000 Menschen versammelt, teils kam es auch zu Anti-Putin-Rufen.
Es gebe in Russland keine organisierte Anti-Kriegs-Bewegung, erklärt die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Elena Stein. In der Regel seien es Einzelpersonen, die sich in ihrem Alltag gegen die Regierungspolitik stellten, wie beispielsweise Rechtsanwält*innen, die politische Gefangene unterstützen oder Lehrer*innen, die versuchten, die Propaganda in den Lehrplänen gezielt zu umgehen. Für Stein steht fest: Bei derartigen Repressionen wie aktuell in Russland ist jede Form des bürgerlichen Engagements politisch.
Heterogene Zivilgesellschaft gleichzeitig Problem und Hoffnung
Trotzdem sei die russische Gesellschaft in ihren politischen Ansichten überaus heterogen, gibt Stein zu bedenken. Lediglich eine kleine Minderheit positioniere sich aktiv gegen den Krieg in der Ukraine, sagt sie. Es gebe durchaus viele Menschen in Russland, die den Krieg unterstützten. Politisch zu sein sei der russischen Gesellschaft gewissermaßen „abtrainiert“ worden, und auch die Angst vor Denunziation sei nicht zu unterschätzen. Auch deshalb arbeite die Opposition meist versteckt – aus dem Untergrund oder dem Exil.
Elena Stein
Der russischen Gesellschaft wurde es abtrainiert, politisch zu sein.
Doch Elena Stein hat Hoffnung, auch wegen dieser Heterogenität. Viele Menschen seien aktuell aus den verschiedensten Gründen unzufrieden. Aus dieser Unzufriedenheit könnte irgendwann eine neue Protestbewegung entstehen, denkt sie.
Das Problem sitzt tiefer als Putin
Trotzdem: Selbst, wenn sich die Menschen bei der Präsidentschaftswahl in Russland an diesem Wochenende tatsächlich frei zwischen verschiedenen Kandidaten aus verschiedenen politischen Lagern entscheiden könnten, sei nicht automatisch von einem politischen Wandel auszugehen, meint Alissa Ganieva.
Ihrer Meinung nach sitzt das Problem Russlands tiefer als Putin. Für eine nachhaltige Veränderung der russischen Politik müsse in erster Linie die Vergangenheit des Landes aufgearbeitet werden, sagt Ganieva. Denn nur, wenn die Menschen in Russland kollektiv Verantwortung übernähmen und zudem die Politik komplett neu besetzt würde, sei ein Wandel möglich. Alissa Ganieva ist sich sicher: „Wenn das nicht passiert, bekommen wir nur einen anderen Politiker, der aber letztlich genau so ist wie Putin.“